Erfolg für den weltweit größten Teilchenbeschleuniger LHC / Experimente mit Mainzer Beteiligung zeigen ersten direkten Nachweis des Higgs-Teilchens
04.07.2012
Das Rätsel um den Ursprung der Materie scheint gelüftet: Das Genfer CERN hat am Mittwoch die Entdeckung eines neuen Teilchens bekannt gegeben, bei dem es sich um das lang gesuchte Higgs-Teilchen handeln könnte. Das Teilchen weist eine Masse von etwa 126 Giga-Elektronenvolt (GeV) auf und ist mithin ungefähr so schwer wie 126 Protonen. "Beinahe ein halbes Jahrhundert ist seit der Vorhersage des Higgs-Teilchens vergangen, nun scheint sich der Kreis zu schliessen: diese Entdeckung entspricht dem Steckbrief des Higgs-Teilchens", kommentiert Univ.-Prof. Dr. Volker Büscher von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Bekanntgabe. Das Higgs-Teilchen ist für das aktuell gültige Weltbild der Physik notwendig, um zu erklären, weshalb die elementaren Bausteine der Materie überhaupt eine Masse haben. Erste Hinweise, dass die Experimente am Large Hadron Collider (LHC) zu einem Durchbruch führen, zeichneten sich im Dezember 2011 ab. "Dieses Signal hat sich bestätigt und die neuen Daten zeigen mit großer Signifikanz ein Higgs-ähnliches Teilchen in dem von uns erwarteten Bereich", so Büscher.
Die neuen Informationen basieren auf einer ungeheuer großen Datenmenge, die sich gegenüber der Basis vom Dezember mehr als verdoppelt hat. In den Monaten zwischen April und Juni 2012 hat der Betrieb des Large Hadron Collider (LHC) nach Angaben des CERN mehr Daten erbracht als im gesamten Jahr 2011. Zudem wurde die Effizienz verbessert, sodass aus den mehreren Hundert Millionen Teilchenkollisionen, die jede Sekunde erfolgen, Higgs-ähnliche Ereignisse besser herausgefiltert werden konnten.
Die Datenauswertung beim ATLAS-Detektor, an dem die Mainzer Arbeitsgruppe Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik (ETAP) maßgeblich beteiligt ist, zeigte einen Überschuss an Higgs-ähnlichen Teilchen in allen untersuchten Endzuständen. "Die zügige und trotzdem sorgfältige Auswertung der neuen Daten erforderte großen Einsatz über die letzten Wochen und Monate, deshalb sind wir nun besonders froh, ein derart aufregendes Ergebnis präsentieren zu können" sagt Dr. Christian Schmitt von der ETAP-Arbeitsgruppe. Auch der zweite große Teilchendetektor am LHC, der Compact Muon Solenoid (CMS), verzeichnete Ergebnisse, die mit den ATLAS-Resultaten übereinstimmen und genau dem Fussabdruck des Higgs-Teilchens entsprechen. "Wir haben auf diesen Moment seit Jahren hingearbeitet und sind überwältigt, dass der LHC und die angeschlossenen Experimente nur zweieinhalb Jahre nach der ersten Proton-Proton-Kollision solche Ergebnisse liefern", ergänzt Univ.-Prof. Dr. Stefan Tapprogge von der ETAP-Arbeitsgruppe.
Das Higgs-Teilchen wurde 1964 vorhergesagt und ist nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannt. Es ist das letzte Puzzlestück, das im Standardmodell der Physik noch fehlt und hat die Funktion, den anderen Elementarteilchen ihre Masse zu verleihen. Nach den Vorstellungen der Physiker ist der gesamte Weltraum von dem sog. Higgs-Feld durchdrungen. Je nachdem wie stark die einzelnen Elementarteilchen an die Higgs-Teilchen koppeln, hätten sie mehr oder weniger Masse. "Die Entdeckung des Higgs-Bosons stellt einen Meilenstein in der Erforschung der fundamentalen Wechselwirkungen der Elementarteilchen dar", sagt Univ.-Prof. Dr. Matthias Neubert, Leiter des Lehrstuhl für theoretische Elementarteilchenphysik und Sprecher des Exzellenzclusters PRISMA an der JGU. Einerseits ist das Higgs-Teilchen der letzte fehlende Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik. Andererseits bereitet es den Physikern Kopfzerbrechen, die beobachtete Masse des Higgs-Teilchens zu verstehen. "Im Rahmen unserer bisherigen Theorie wäre die Masse des Higgs-Bosons nur durch eine zufällige Feinabstimmung der Naturkonstanten mit einer Genauigkeit von eins in einer Billiarde zu verstehen", erklärt Neubert.
Aus diesem Grund hoffen die Physiker, dass eine "neue Physik" jenseits des Standardmodells eine natürlichere Erklärung der Eigenschaften des Higgs-Teilchens liefern wird. Diese neue Physik wird dringend benötigt, um eine Reihe von weiterhin offenen Fragen zu beantworten. Denn das Standardmodell erklärt nur das sichtbare Universum, das lediglich vier Prozent der gesamten Materie ausmacht. "Das Standardmodell beschreibt die sogenannte Dunkle Materie nicht, es kann also nicht das gesamte Universum erklären – da gibt es noch viel zu tun", fasst Büscher zusammen.
Die Arbeiten der Mainzer Physiker sind in das Exzellenzcluster "Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter" (PRISMA) integriert, das bei der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder vor zwei Wochen einen eindrucksvollen Erfolg erzielt hat.