Forschung an der Schnittstelle von Ökonomie und Physik / Tobias Preis
12.11.2010
Mit der jüngsten weltweiten Finanzkrise ist auch die ökonomische Theoriebildung in eine Krise geraten, da Finanzkrisen in effizienten Märkten wegen ihrer Selbstorganisation durch Angebot und Nachfrage rein theoretisch gar nicht vorkommen dürften. Ökonophysiker, die sich an der Schnittstelle von theoretischer Physik und Ökonomie mit der "Physik des Finanzmarktes" beschäftigen, betrachten diese Idealisierung des selbstregulierenden Marktes mit Skepsis - mit der Begründung, dass nicht nur Angebot und Nachfrage den Finanzmarkt bestimmen, sondern auch das zugrundeliegende komplexe System der Finanzmarktakteure mit allen seinen Facetten berücksichtigt werden muss, das bspw. auch für das Herdenverhalten an Finanzmärkten verantwortlich ist.
Als interdisziplinärer Ansatz der Wirtschaftswissenschaften und der Physik besteht der Anspruch der Ökonophysik darin, Methoden aus der statistischen Physik auf das komplexe System des Finanzmarktes anzuwenden und damit ökonomische Phänomene qualitativ und quantitativ zu modellieren. Die Modelle der Ökonophysik lassen explizit zu, dass die Preisbewegungen an den Finanzmärkten nicht einem Gauß'schen Verhalten entsprechen - eine Erkenntnis, die in der Ökonomie lange Zeit vernachlässigt wurde, obwohl Finanzmarktreihen ein komplexes statistisches Verhalten aufweisen, das Gemeinsamkeiten mit den nicht-Gauß'schen Eigenschaften kritischer Fluktuationen in der Physik besitzt.
In "Ökonophysik: Die Physik des Finanzmarktes" gibt Dr. Tobias Preis, Physiker an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, einen fundierten Einblick in das noch junge interdisziplinäre Forschungsgebiet der Ökonophysik und entwickelt ein Orderbuchmodell zur Finanzmarktsimulation auf der Grundlage von Multiagentensystemen. Sog. Multiagentensimulationen erlauben es, Systemkomponenten wie Verträge, Kredite, Beteiligungen etc. separat und in ihrer Interaktion zu simulieren. So lassen sich Einsichten darüber gewinnen, unter welchen Voraussetzungen sich welche Arten von Systemverhalten ergeben. Tobias Preis entwickelt zunächst ein detailliertes Modell für die Doppel-Auktionen an Finanzmärkten, auf das er schließlich sein Orderbuchmodell aufbaut. Durch den Vergleich mit den empirischen Besonderheiten von Finanzmarktzeitreihen kommt er zu dem Schluss, dass sich der Preis ohne einen Markttrend, der entweder für einen entsprechenden Aufwärts- oder Abwärtstrend der Kursbewegung sorgt, im Zeitverlauf wie bei der zufälligen Diffusion eines Flüssigkeitsmoleküls verändert. Wird die charakteristische Ordereinstelltiefe an diesen Trend gekoppelt, so werden die nicht-normalverteilten Preisvariationen verständlich, die zu Blasen und Zusammenbrüchen des Marktes führen. Demnach ist es die Kopplung zwischen physikalischen Zufallsprozessen und der Psychologie, die zu einem potenziell sehr gefährlichen Herdenverhalten führt.
Dr. Tobias Preis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Condensed Matter Theory Group des Instituts für Physik - Physik der Kondensierten Materie (KOMET) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Juniormitglied der Gutenberg-Akademie. Sein Buch "Ökonophysik: Die Physik des Finanzmarktes" richtet sich in erster Linie an Studierende und Dozierende der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Wirtschaftsinformatik und Finanzwirtschaft sowie der Physik mit den Schwerpunkten statistische Physik und Computerphysik sowie Praktiker des Finanzmarktes.